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Jürgen Egyptien: Terror und Tango

Laudatio auf Sibylle Schleicher anlässlich der Verleihung des 1. Peter Klein-Literaturpreises am 24.08.2001. Ursprüngliche Fassung erschienen in: Lichtungen, 2002, Heft 90. Da der Peter Klein-Literaturpreis heute zum erstenmal vergeben wird, darf ich vielleicht einige Bemerkungen zu seiner Intention und seinem Charakter der Würdigung Sibylle Schleichers voranschicken. Mit der Benennung des Preises soll die Erinnerung an den vor gut zwei Jahren plötzlich verstorbenen Buchhändler Peter Klein wach gehalten werden, und das nicht allein wegen des in seiner Branche beinahe einzigartigen Engagements für die Literatur, sondern auch wegen seiner im literarischen Betrieb ebenfalls zur Seltenheit gewordenen menschlichen Integrität. Dieser Preis soll ein sichtbares Zeichen des Gedenkens an und vor allem des Fortsetzens von Peter Kleins Literaturenthusiasmus sein. Damit komme ich zur zweiten Intention des Preises. Sie besteht darin, die Aufmerksamkeit auf eine neue oder doch junge literarische Stimme zu lenken, wobei allerdings weder an effekthascherische Saisonneuheit noch an eine Altersgrenze zu denken ist. Das Peter Klein-Literaturforum konzentriert seine Aktivitäten daher auf die Vorstellung von Autorinnen und Autoren, die noch am Beginn ihres Schaffens stehen, und möchte – etwas überspitzt gesagt – an der Entdeckung der Klassiker von morgen mitwirken. Jetzt möchte ich Ihnen aber unsere Preisträgerin Sibylle Schleicher und ihren ersten Roman Das schneeverbrannte Dorf, aus dem sie im Herbst letzten Jahres in Aachen vorgetragen hat und der unsere Entscheidung für sie motivierte, vorstellen. Sibylle Schleicher ist Jahrgang 1960 und stammt aus dem Dorf Schielleiten in der Steiermark. Selbst für die österreichische Provinz dürfte es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich sein, dass sie als dreizehntes von vierzehn Kindern zur Welt kam. Im selben Bundesland legte sie 1978 die Matura ab und verbrachte anschließend als Stipendiatin ein Jahr in den USA. 1979 nahm sie in der steirischen Hauptstadt Graz das Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst auf. Ab 1981 hatte sie feste Engagements und Gastverträge unter anderem an den Bühnen in Graz, Bielefeld, Kiel und Berlin. Seit 1991 war sie freiberuflich als Schauspielerin mit Soloprogrammen und als Schriftstellerin tätig. Mit der jetzt beginnenden neuen Spielzeit tritt sie ein Engagement am Stadttheater in Ulm an. Seit 1983 erscheinen Gedichte und Prosatexte von Sibylle Schleicher in diversen Zeitschriften, 1994 veröffentlichte sie als ihr erstes Buch den Lyrikband ungefunden, dessen Texte in einem Dialog mit den fragilen Zeichnungen des Illustrators Heinz Bruckschwaiger stehen. Die Gedichte haben meist einen schwebenden Tonfall, gelegentlich erinnern sie an einen gemäßigten Surrealismus oder greifen die typisch österreichische Tradition des Sprachspiels auf. Thematisch führen von ihnen aus verschiedene Spuren zu Sibylle Schleichers im Jahr 2000 erschienenem Roman Das schneeverbrannte Dorf. Die Wiegenlieder, teils als Variationen bekannter Volksweisen, weisen auf die große Bedeutung der Kindheit hin, wie in zahlreichen Gedichten bildet auch im Roman die Verarbeitung einer gescheiterten Beziehung den biographischen Hintergrund des Ich, und insgesamt gibt es eine atmosphärische Verwandtschaft zwischen dem lyrisch erklingenden „leise[n] lachen / über die leichen von morgen“ und der heiter-elegischen Stimmung des Romans. Schließlich stößt man in dem Wintergedicht des Jahreszeitenzyklus in ungefunden auf das Titelmotiv des Romans, wenn es heißt: „schnee fällt / verbrennt das dorf / im schlaf“. Was macht nun Sibylle Schleichers Roman so besonders, dass er aus der Fülle der alljährlichen Neuerscheinungen hervorsticht? Das Wesentliche ist sicher der eigene Ton, der vom ersten Satz an da ist und sofort einen fast körperlich spürbaren Sog erzeugt. Aber kann man eigentlich von einem ersten Satz sprechen? Erst nach vier Seiten stößt man auf den ersten Punkt, und das ist nicht untypisch für dieses Buch. Seine Abschnitte, die zu großen Teilen aus Dialogen und dem inneren Monolog der namenlos bleibenden Ich-Erzählerin bestehen, sind nur durch Gedankenstriche untergliedert. Diese Gedankenstriche erfüllen gleichsam die Funktion von Taktstrichen und verwandeln den Text auf diese Weise in eine Art Partitur. Insofern kann man doch von Sätzen sprechen, wenngleich im eher musikalischen Sinne. Eine weitere Stärke von Schleichers Buch ist die bildkräftige, atmosphärisch dichte Sprache, die gerade in den Partien, die in die Kindheit auf dem Dorf eintauchen, eine große evokative Kraft entfaltet, also vergangene Stimmungen und Situationen zu vergegenwärtigen vermag. Hierzu tragen die zahlreichen assoziativ eingewobenen Erinnerungssplitter aus Märchen, Bauernkalendern, Küchen- und Volksliedern nicht unerheblich bei. Schließlich ist es die sensible Schilderung der Beziehung eines höchst ungleichen Paars, das dieser Roman zusammenführt und in der Abgeschlossenheit seiner isolierten Lage wie in einem Laborversuch beobachtet. Worum geht es in diesem Buch? Eine junge Frau kehrt nach zwei Jahrzehnten der Abwesenheit in ihr Heimatdorf zurück, das sie einst geradezu fluchtartig verlassen hat, als eine Jugendliebe sich in eine eheliche Verbindung zu verwandeln drohte. Nun kommt sie als Flüchtende wieder, weil sie in der fernen Metropole in genau jenes Beziehungsgefängnis geraten war, dem sie einst entgehen wollte. Der Roman setzt mit ihrer Ankunft im Dorf ein, wo sie indes niemanden mehr außer dem alten, grantigen Brandner antrifft. Natürlich möchte sie wissen, warum das Dorf verlassen ist, aber Brandner verweigert jede Auskunft. „Niemand mehr da, sagt der Brandnerbauer und grinst – aber wo sind sie hin, frag ich – fort, sagt er – fort, wohin fort – fort eben – er wischt mit dem Handrücken über die spätherbstliche Landschaft – seine drei Finger zeigen überall hin und nirgends – […] – er denkt gar nicht daran, Bericht zu erstatten – ich muß anfangen, irgendwie – ich möchte es heute noch wissen, nicht erst morgen oder in einem Monat – […] – wieder ein Krieg – aber davon müßte ich doch wissen – heutzutage – heutzutage überhört man keinen Krieg – ich frag ihn trotzdem, nur um wieder einen Anfang zu finden […] – ist wieder Krieg – nein, wieso Krieg – weil die Männer weg sind, vielleicht nur die Männer – nein, nicht nur die Männer, die Frauen auch mit den Kindern – Krieg ist nicht – Gott sei Dank ist kein Krieg – mit seinen paar Fingern könnte er keine Kanonen mehr schleppen, sagt er und lacht – ja, aber was dann – ein Hochwasser – nein, doch nicht im Herbst […] – war´s ein Erdbeben – ja, ein Erdbeben, ein kleines, er nickt“ (S.5f). So beginnt der Roman, und bis zum Ende wird der Grund für die Verlassenheit des Dorfs nicht völlig klar. Erst nach Brandners Tod findet die Ich-Erzählerin unter seinen Hinterlassenschaften ein Stück Zeitung, in dem von einem nicht näher bezeichneten Unfall und notwendigen Evakuierungsmaßnahmen die Rede ist. Dieser Handlungsrahmen und der Schauplatz des abgelegenen Dorfs, auf dem ein rätselhafter Fluch zu lasten scheint, sind gerade in der österreichischen Gegenwartsliteratur nicht selten anzutreffen. Die prominenten Vorgänger hierfür reichen von Hans Leberts Die Wolfshaut über Marlen Haushofers Die Wand bis zu Christoph Ransmayers Morbus Kitahara. Gleichwohl geht Sibylle Schleicher mit diesem Sujet völlig eigenständig um. Zwar hat Das schneeverbrannte Dorf, wie wir noch sehen werden, durchaus Merkmale eines Desillusionsromans, aber es verfolgt ganz andere Interessen als die verbissene Entlarvung der Provinz als eines von geschichtlicher Schuld beladenen Höllenkreises bei Lebert und Ransmayer oder die psychologische Durchdringung einer weiblichen Robinsonade bei Haushofer. Das schneeverbrannte Dorf unterscheidet sich von den genannten Werken vor allem durch seinen Humor und die Selbstironie der Ich-Erzählerin. Für diesen Aspekt sei beispielhaft auf die tägliche Suppenmahlzeit, eine Art Tour des soupes verwiesen. In jedem Haus des Dorfes haben die Bewohner eine Suppe auf dem Herd stehen lassen, die dem zurückgebliebenen Brandner zugedacht war. Nun ziehen beide Tag um Tag von Haus zu Haus und leeren die Suppentöpfe, was mal mehr und mal weniger lukullisch ist und Brandner vor allem immer Anlass zu anekdotenhaften Ausflügen in die jeweiligen Familiengeschichten gibt. Nicht nur bei Tisch gibt Brandner den Ton an. Er treibt sie auch gleich nach ihrer Ankunft dazu an, das ungeerntete Obst einzubringen und ihm bei allen landwirtschaftlichen Verrichtungen an die Hand zu gehen. Sie ist auch gar nicht unwillig, sich in diese harte Arbeit zu schicken, glaubt sie doch, auf diese Weise der eigenen jüngsten Vergangenheit entrinnen zu können. Nur bruchstückhaft kommt diese Vorgeschichte zutage. Die Ich-Erzählerin hat sich aus Liebe zu einem Mann namens Jens der terroristischen Vereinigung Roter Mond angeschlossen und ein Leben in wachsender Illegalität geführt. In der jemenitischen Wüste hat sie eine militärische Ausbildung absolviert, um sich an terroristischen Gewaltakten beteiligen zu können. Bei einem Überfall fand ihre Freundin und Komplizin Johanna den Tod. Jens macht sie für dieses ‘Opfer der Revolution’ verantwortlich. Von einem gemeinsamen Kind will er nichts wissen, weil er ihre konspirative Existenz für unvereinbar mit einem bürgerlichen Familienleben hält. Die Ich-Erzählerin ringt sich gegen ihre innere Überzeugung dazu durch, aus Loyalität zu Jens und als Beweis ihrer Liebe das Kind abzutreiben, aber mit diesem Abort hat sie endgültig die Liebe zu ihm selbst abgetrieben. Sie entschließt sich zum Ausstieg aus diesem ‘abhörgeschädigten’ Leben und flieht überstürzt in die einstige Heimat. Hier versucht sie ihre Identität wieder zu finden, indem sie sich den Erinnerungen an die Kindheit überlässt. In den Arbeitspausen und auf alten Wegen taucht sie in das illusionäre Paradies einer verlorenen Zeit ein. Diese Fluchten in die biographischen Urgründe sollen explizit eine therapeutische Funktion erfüllen. „Ich verordne mir wieder Besuche in der Kindheit“, sagt die Ich-Erzählerin als Konsequenz ihrer Selbstdiagnose. Dabei sind es keineswegs nur Bilder unbeschwerter Kindheitsfreuden, die ihr Gedächtnis gespeichert hat. Zwar gab es die tagelang währenden Zeremonien der großen kirchlichen Feste Weihnachten und Ostern, die im Familienkreise in strenger und feierlicher Form nach einem unverrückbaren Ritus begangen wurden und die Ich-Erzählerin in eine tränenselige Sentimentalität versetzten. Zwar gab es den ausgelassenen Mummenschanz des Faschings und die Naschereien der Adventszeit oder der Dreikönigsnacht, und schließlich gehörten viele Örtlichkeiten, die sie nun wieder nach langer Zeit erstmals betritt, dem einstigen Phantasiereich Schamalakeland an, dessen schwesterliche Herrscherinnen sich in der nur ihnen zugänglichen Sprache Lepatschola verständigen konnten. Aber diesen idyllischen Erinnerungen stehen andere gegenüber, die die frühe Bekanntschaft mit Tod und Gewalt bewahren: die in früher Kindheit miterlebte Aufbahrung der Großmutter, die sich regelmäßig wiederholenden Rituale der brutalen Tötung überzähliger Katzenwürfe und der eigenen Beichtfolter, schließlich der plötzliche Tod des geliebten Vaters und das qualvolle Hinsterben einer mongoloiden Schwester. Der Flucht- und Höhepunkt all dieser Rückzugsbewegungen in die Vergangenheit ist aber Thomas, die erste Liebe, vor der sie einst floh. Immer wieder stößt sie auf die Orte dieser Liebeserweckung und schwelgt in Nostalgie. Nach zwei Monaten des dörflichen Lebens heißt es: „Langsam verdrängt er wieder Jens – warum soll das eine Illusion sein – tagsüber die Hoffnung, daß mich die erste große Liebe heilen kann – nur im Schlaf holen mich die letzten Jahre ein, bedrängt mich diese Vergangenheit – natürlich ist es eine Illusion – einmal war es genau umgekehrt – da hab ich mich ins Leben gestürzt, um die erste große Liebe zu vergessen – zur falschen Zeit am falschen Ort gesucht – einfach durchstreichen, als wär´s nie dagewesen, das wäre überhaupt das beste …“ (S.110) Erst spät erfährt die Ich-Erzählerin von Brandner, dass dieser Thomas sein unehelicher Sohn ist. Es ist ihm daher ein Leichtes, ihren gegen besseres Wissen geschürten Illusionen eines Wiederanknüpfens an die verlorene Zeit die nackte Realität entgegenzusetzen. „Dein göttlicher Thomas“, eröffnet Brandner ihr nicht ohne Häme, „ist ein vollkommen heruntergekommener Trottel – […] er kann nicht unterrichten, die Schüler nehmen ihn gar nicht ernst, lachen ihn aus, seine Familie hat er längst im Stich gelassen – […] ein Alkoholiker ist er, sonst nix, ein versoffener Spinner – […] ich dachte, es könnte dich interessieren, du malst dir doch weiß Gott was aus mit ihm und eurem Wiedersehen, das merk ich doch […]. Zu spät, dafür aber umso hochmütiger, stolziere ich aus dem Raum – warum hat mich das so getroffen – ertappt hat er mich – natürlich habe ich davon geträumt – wieder von vorne anfangen können – mit ihm – ein Wahnsinn eigentlich – ich darf es gar nicht laut denken – die kleinen und großen Irrtümer des Lebens anscheinend vorprogrammiert – dazwischen teilt die Realität ihre Faustschläge aus“ (S.221). So werden die Hoffnungen auf ein Von-vorne-Anfangen gnadenlos demontiert. Das Leben ist nun mal kein Labyrinth, in dem man einen Irrweg zurückgehen kann und am Ausgangspunkt seines Fehlgangs die richtige Wahl trifft, als hätte es zuvor keine falsche gegeben. Schon bald nach ihrer Ankunft formuliert die Ich-Erzählerin diese Einsicht: „nichts hat sich verändert – alles ist anders geworden“ (S.8). Diese Beobachtung findet ihre Beglaubigung schließlich auch an dem von Brandner und der Ich-Erzählerin künstlich aufrecht erhaltenen Alltag. Mit der Fortsetzung der Ernte und der pünktlichen Begehung aller kirchlichen Festtage, mit der Beibehaltung des traditionellen sonntäglichen Kegelns und der Pflege des örtlichen Brauchtums inszenieren die beiden eine objektiv verschwundene Normalität. Die schwierige Beziehung dieses ungleichen Paares in ihrer mühsamen Entwicklung, die nur zögernd weichende Fremdheit, das nur zögernd gewährte Vertrauen zu schildern, gehört sicher zu den bemerkenswertesten Leistungen der Erzählerin Sibylle Schleicher. Hier entsteht auch gelegentlich der Raum für derbere Gespräche, für kleine Nickligkeiten, die die beiden manchmal wie ein altes Ehepaar erscheinen lassen, vor allem aber für ausschweifende Trinkgelage und ausgelassene Tänze. Die Passage, in der der stockbesoffene Brandner die auch nicht unerheblich beschwipste Ich-Erzählerin in der Silvesternacht zu alten Schellackplatten im Tangorhythmus durch die Küche schleift und trotz seines fortgeschrittenen Alters fast etwas zudringlich wird, ist sicher einer der erzählerischen Höhepunkte des Romans. Anfangs ließ Brandner keinen Zweifel daran, dass er die in die Großstadt desertierte Ich-Erzählerin für eine unfähige Schlampe hielt, die er nur notgedrungen als Gehilfin duldete. Doch der Eifer, mit dem sie sich in eine Arbeit und einen ritualisierten Lebensrhythmus stürzt, von dem sie sich die Wiedergewinnung ihrer Identität verspricht, nötigt ihm zunehmend Respekt ab. Der starrsinnige, unzugängliche Veteran, der als Waisenkind einst von den Großeltern der Ich-Erzählerin aufgenommen wurde und im Dritten Reich Soldat war, weicht allmählich auf und akzeptiert sie als Partnerin im Überlebenskampf. Besondere Achtung erwirbt sie sich durch ihre Treffsicherheit mit einem Gewehr, als sie bei dem einzigen Versuch, das Dorf zu verlassen und zur Apotheke des Nachbarorts vorzudringen, von einer Meute tollwütiger Füchse unter der Führerschaft von Brandners entlaufenem Hund Arthur angegriffen werden. Gegen Mitte des Buches heißt es einmal sogar emphatisch: „der Brandner und ich sind uns ganz nah – als wär´s nie anders gewesen – die Tage sind zu kurz, um sie Mißverständnissen preiszugeben – […] – endlich geht ein anderes Leben los, ein ganz eigenes Leben, ein neues – das Leben mit dem Brandner – in der Nacht keine irrwitzigen Träume mehr“ (S.127). Aber auch hierin unterliegt die Ich-Erzählerin einer Täuschung, und zudem einer doppelten. Zum einen hat das Leben mit Brandner keine Perspektive, da er vom Tod gezeichnet ist. Beide werden immer wieder von heftigen Fieberattacken heimgesucht, die bei Brandner zudem mit dem sukzessiven Verlust seiner Finger einhergehen, was er ihr lange zu verbergen trachtet. Am 8. Mai, ein gutes halbes Jahr nach ihrer Ankunft, stirbt Brandner. Das Todesdatum passt zu ihm. Seine meist anekdotischen Erzählungen stammen oft aus seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Kriegsgräuel kommen in seinen Erinnerungen nicht vor. Die Ich-Erzählerin sinniert: „von richtigen Kampfeinsätzen hat er nie erzählt – immer nur von Kameradschaft – die Feinde klangen ja auch irgendwie harmlos: der Ivan, der Tommy, der Ami, der Franzmann – oft beruhigte mich die Vorstellung, daß eh nur fünf Leute aufeinander geschossen hätten …“ (S.85) Aber irgendwann ist sie seiner Verharmlosungen überdrüssig und wirft ihm ideologische Blindheit und die Verwandlung des Weltkriegs in eine vergnügliche Almwanderung vor. Brandner erklärt ihren Ausbruch als Zeichen eines „Stellungskollers“, aber er erkennt auch, „daß du über deine Kindheit redest wie ich über den Krieg“ (S.227). Mit dem Aussprechen dieser Erkenntnis wird für beide die Flucht in diese Erinnerungsparadiese unmöglich. Der Spiegel der Kindheit ist für die Ich-Erzählerin erblindet, sie kann sich darin nicht mehr finden. Die zweite Täuschung, der sie unterliegt, ist die Hoffnung, den nächtlichen Alpträumen zu entkommen. Sie durchziehen wie ein roter Faden den ganzen Roman und produzieren Bilder, in denen die Ich-Erzählerin ihre Traumatisierungen verarbeitet. Nur phasenweise kann die Flucht in den geregelten Lebensrhythmus sie aus dem „Traumsumpf“ herausziehen. Gegen Ende des Romans, als auch ihre Fieberkrämpfe heftiger und langwieriger werden, machen sich die Träume „über mich her wie eine Fleischfresserpflanze über ihr Opfer – die Saugnäpfe der Fangarme überall zugleich“ (S.201f.). In ihren Alpträumen vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart, ihr eigenes und Brandners Leben. Immer wieder sind es Träume vom Zugfahren, die ihr das Gefühl einer existentiellen Nichtzugehörigkeit vermitteln. „ich sitze mit ihm im Zug – draußen zieht die Landschaft vorbei – zuerst nur Apfelbäume – dann der Obstgarten, der Teich […] … – ich möchte aussteigen und an diesen Orten verweilen, aber es geht nicht – der Brandner schafft´s irgendwie – ich sehe ihn winken, fahre alleine weiter – plötzlich ist Krieg draußen – leiberzerfetzende Bomben, die neben mir einschlagen, mich knapp verfehlen – […] – ich will aussteigen und wegrennen – es schneit – der Schnee flirrt, tanzt über den Boden, wird Wasser, bevor er das Gras erreicht – das Gras bleibt grün – der Zug stinkt – Rauch in den Gängen, vollgepferchte Abteile – in meinem Bauch eine rote Fischdose gleich einem Vollmond – ich weiß, das ist mein Kind, stelle plötzlich fest, dass da, wo die Augen hingehören, nur leere Höhlen sind, ausgefressen – im Halbschlaf denke ich, das waren die Ratzen …“ (S.78). Die Ratzen sind es schließlich auch, die der Ich-Erzählerin den Beweis dafür liefern, dass die Natur aus ihrer Bahn geschritten ist. Zwar konstatieren sie und Brandner die ungewöhnliche Wärme in den Wintermonaten und das unverändert reif bleibende Obst, aber Brandner wiegelt mit immer neuen Bauernweisheiten die gelegentlichen Fragen der Ich-Erzählerin ab. Erst als sie nach Monaten feststellt, dass die in den Teich gefallenen Rattenkadaver keine Zeichen von Verwesung aufweisen, lässt sie sich von seinen Redensarten nicht mehr beschwichtigen: „sie liegen noch im Teich, als wären sie heut erst reingefallen, sie sind nicht verfault, sie stinken nicht – […] ich hab nicht gedacht, daß man von denen noch was sehen würde – […] und wenn du rausschaust, das ist nicht das saftige Grün vom Frühling, aber die Blätter fallen auch nicht ab – da ist was stehengeblieben.“ (S.104) Am Ende von Büchners Dantons Tod formuliert Lucile aus Verzweiflung über die Gleichgültigkeit der Natur ob der bevorstehenden Guillotinierung ihres Geliebten die Utopie eines Stockens aller natürlichen Abläufe. Hier verwirklicht sich ihre Utopie als postapokalyptischer Alptraum. Die Konservierung des schönen Scheins ist die heimtückischste Erscheinungsform der Katastrophe. Die Ich-Erzählerin fragt sich nach ihrer Entdeckung bestürzt, „ob sich die Menschheit schon immer so rasant auf den Weltuntergang zubewegt hat“ (S.105), aber ihre Frage kommt zu spät. Der Untergang liegt bereits hinter ihr. Was sie noch sieht, ist bloß die Simulation einer realen Welt. Ohne das Element der Veränderung ist sie so leblos wie eine Fotographie, reine Virtualität, deren Vollkommenheit die unvollkommene Wirklichkeit zwar ästhetisch zu übertreffen vermag. So endet der Roman mit dem rückgewandten Blick der Ich-Erzählerin, die das Dorf mit Brandners Leiche und ihren abgelegten Identitäten verlässt: „Ich gehe und sage, was ich weiß – von hier oben wirkt das Dorf immer noch paradiesisch – […] – Schnee liegt noch um die verbrannten Häuser – trotz der Hitze – das stört die Idylle aber keineswegs – es ist, als ob der Schnee das Dorf verbrannt hätte – ich trage die Asche zu den nächsten Menschen – schön ist es hier, wenn auch tödlich schön – zum Wiederkommen schön.“ (S.251) Sehr verehrte Sibylle Schleicher, ich gratuliere Ihnen zu unserem Preis und noch mehr zu ihrem Buch und hoffe, dass Sie ihren Aufenthalt in Aachen zum Wiederkommen schön finden werden.]]>